Leni, Nomadin

Jordan/Imhasly

Leni, Nomadin
Stroemfeld Verlag, 2001
Frankfurt am Main / Basel
ISBN 3-87877-834-1

 

 


Zwei Neuerscheinungen im Anna-Wimschneider-Genre hat Rüdiger Dilloo anzuzeigen: Den bei Stroemfeld erschienenen Bild- und Textband "Leni, Nomadin" von Renato Jordan (Fotos) und Pierre Imhasly (Text) sowie Heinrich Thies' "Geh aus, mein Herz, und suche Freud" (Hoffmann und Campe).?1) Renato Jordan, Pierre Imhasly: "Leni, Nomadin" ?Den Band über eine alte Hirtin in den Schweizer Bergen hält Dilloo für großartig, dicht und schön. Imponiert hat ihm die Unaufgeblasenheit des Ganzen, die dem Betrachter Rätsel aufgibt: "Bilder-Rätsel wie aus einem frühen Bergmann-Film", wenn der Fotograf die "Szenen eines Nomadenlebens" scharf ausleuchtet, diese "Fragmente einer fremd gewordenen ... Lebensweise". Der Text scheint ihm dazu zu passen: "kryptisch, widerständig, Poesie". Und genau gelesen, findet er, macht er hinter dem "körperlichen Dasein" der alten Frau eine "unerwartete geistige Ebene" aus. Das hat mit Religion zu tun und, Dilloo ist richtig überrascht, mit Literatur. Denn Leni liest Tolstoj.
Rüdiger Dilloo,DIE ZEIT LITERATUR,3/2002


Entstanden ist ein ebenso schönes wie wundersames Buch; es erzählt aus einem Leben in Übereinstimmung mit dem Naturgeschehen, es zeigt Bilder aus einem Dasein, in dem alles seine Zeit hat: das Gebären und das Sterben, die Not und die Freude, die Geschäftigkeit und die Sehnsucht. Nein, keine Idylle. Die Spuren des Lebens haben sich als Furchen ins Gesicht gegraben, um Augen und Mund aber spielt eine Heiterkeit, und aus mancher Gebärde ahnt man das Wissen um grössere Zusammenhänge.


Lenis neunzehn Schürzen: Pierre Imhasly und Renato Jordan zeigen die innerste Schweiz?
Magdalena Zenklusens Hand ist eben durch ihr graues Haar gefahren, das unter dem Kopftuch hervorsieht und in dem einzelne Schneeflocken hängen; die Hand beschützt das Ohr und gibt den Blick frei auf das durch Falten fein gezeichnete Gesicht einer alten Frau vor einer Hauswand mit quadratischen Luken, die aus dem Schnee aufragt. Der Mantel der Frau ist aus einem auffallend gemusterten Stoff, wie man ihn in den fünfziger Jahren für Möbelbespannungen verwendete, was der archaischen Szene einen beschwingten Duktus verleiht und im Betrachter die Neugier weckt, nach dem leuchtenden Blick und der "klaren Schärfe" dieser Frau zu fragen. Sie ist Hebamme und Bäuerin im Schweizer Grenzgebiet zu Italien, wo unten die Doveria von Simplon durch die Gondo-Schlucht nach Domodossola strömt und oben die Terrassen der Almen zur Baumgrenze aufsteigen. Pierre Irnhasly, der Dichter der "Rhone-Saga" (1996), und der in Brig/Wallis ansässige Fotograf Renato Jordan haben das Porträt einer Frau gezeichnet, die durch ihre Lebensform die kulturellen Epochengrenzen auf ganz persönliche Weise durchbricht.
Imhaslys in kolloquialem Ton gehaltener Hymnus, die meist doppelseitigen Schwarzweißfotografien Jordans und die im Anhang gegebenen Erläuterungen feiern kein Idyll. Zwar reicht das Leben der Magdalena Zenklusen tatsächlich in die Vorzeit der Moderne, denn wer - oft nach Märschen durch Eis und Fels - "zweihundertfünfundachtzig Kinder ans Licht gesetzt" hat, wer allsommerlich mit Geißen, Eseln und Katzen auf die Almen zieht, fügt sich schlecht in neuzeitliche Raster. Zum anderen hat aber die Abgeschiedenheit des Tales - wie Imhasly mit spöttischer Verve betont - zu radikaler Emanzipation geführt: "An ihrem Berg gibt es nur Frauen. (Und Tiere auch.) Wo Männer auftauchen, sind sie zum Helfen da; ohne Unterschied." Leni wird so zu einer an Artemis und Hekate gemahnenden Herrin der Tiere, der die Geißen nachlaufen, die die Katzen liebt und die ohne Blick beim Sauschlachten vorbeigeht. Zugleich ist sie "Herrin der Consecutio Temporum": Sie hat den katholischen Heiligenkalender und die kirchlichen Feste im Blut, ohne doch durch sie gefesselt zu werden. Zur Zeit der Fronleichnamsprozession ist sie längst auf dem Berg, und wenn der Pfarrer zu Jakobi, am 25. Juli, zur Kapelle auf die unterste Alm kommt, ist sie meist schon eine Terrasse höher gezogen. Ihre Frömmigkeit ist anders begründet.?Die Leni, Schwester eines Pfarrers und Kind aus einer alten, weitverzweigten Familie, wohnt in einem Haus aus dem Jahr 1647 und blickt dennoch über ihr Tal hinaus. Sie liest viel, von "Frauenliteratur" bis zu Tolstoj und Dostojewskij: "Die Russen, tüchtig schwer", so Leni. Auf ihrem Nachttisch steht ein Globus, sie war in St. Petersburg, in Spanien und auch in Indien. Ihre "neunzehn Schürzen der Serenität" werden für Imhasly zu "Saris" und den unvergeßlich groß geblümten Kleidungsstücken, die man auf mehreren Fotos sieht, wird man diesen- Namen schwer versagen. Das im Text geübte Projizieren fernöstlicher Muster auf die alpine Lebensform dürfte allerdings allein auf das Konto Imhaslys gehen, denn Leni, die "Schwester der Kompromißlosigkeit", scheint hierin klüger als ihr Dicht6r, fordert sie doch genaues Studium des fremden Glaubens: "Wir können unsere Religion aucb nicht einfach so hinstellen", so Leni. Gewöhnungsbedürftig ist auch Imhasly"; Sprachmischung, in der "mega Schöpfkellen" neben dem "Sankt Herrgottstag" stehen, doch im französisch und italienisch durchwachsenen Idiom der Schweiz mag das angehen.?Die Schwarzweißfotografien von Renato Jordan haben es leichter, die Spannungen dieser Lebenswelt auszuleuchten. Sie sind oft aus starker Untersicht aufgenommen, ganz nah und mit bisweilen schroff zusammengespannten Bildausschnitten. Sie zeigen heiteren Takt bei allem Folkloristischen und spüren aufmerksam den feinsten Linien nach: in Felsen, Holz und Gesichtern. Die Monochromie ermöglicht es dabei dem Fotografen wie einem buddhistischen Tuschmaler, die Einheit der Welt in seinem Medium unmittelbar darzustellen: Fels und Atem, Katze und Schatten, Schnee und Sonnenlicht sind bloß Nuancen des einen. Ob Magdalena Zenklusen daran oder nicht doch an ganz anderes glaubt, bleibt ihr Geheimnis.
Thomas Poiss,Frankfurter Allgemeine Zeitung,2.2.2002


Die Nomadin
Ein Fotoband gibt Einblick in eine verschwindende Lebensform.
Leni geht auf den Berg, seit sie neun ist. Allein. Bei sich nur die Tiere: Zwei Eselinnen, die geduldig das Wenige tragen, das man zum Leben auf der Alm braucht. Jeden Sommer führt Leni das Vieh auf die entlegenen Weiden an der italienischen Grenze. Gehts los, steckt Leni die beiden Katzen Veritas und Chouchou in den Sack, und hopp! Sie sorgen für etwas Gesellschaft, wenn die Hirtin ihre einsamen Kehren durch die Walliser Alpen zieht.
Leni ist die Hauptfigur in Renato Jordans feinfühligem Fotoessay, der nun in Buchform vorliegt. Aus einer vergangenen Epoche scheinen sie zu stammen, die über fünfzig Schwarzweissaufnahmen. Sie dokumentieren das Leben einer Wanderhirtin, das sich allein nach dem Taktstock der Natur richtet. Fromm ist es, widersetzt sich der Vereinnahmung. Wer das Klischee der dümmlichen Kuhhirtin bedient sieht, irrt sich. Jordan zeigt eine weltoffene, kluge Frau, deren Neugier sie bis nach Indien und Moskau trieb. Ihre Lieblingslektüre: Dostojewski, Tolstoj ("Die Russen, tüchtig schwer!").
In ihren Bann zog sie den Fotografen schon als kleinen Buben: Tief beeindruckt war Jordan, wenn die gelernte Hebamme im Dorf ein Kind entband. Zweihundertfünfundachtzig Geburten hat sie seither begleitet. Jordans unprätentiöse Bilder sind eine Hommage an diese Frau, die früh gelernt hat, standhaft zu sein, wenn anderen die Knie nachgaben. Seine Bilder schaffen eine Nähe zu ihr, ohne sie jemals an den Betrachter auszuliefern. Zum Feingefühl des Psychologen gesellt sich der Scharfblick des Ethnografen: Der Walliser rettet das Andenken an eine Wirtschaftsform, den Nomadismus, der heute in der Schweiz kaum mehr praktiziert wird. Leni ist die Letzte ihres Schlags. Die lyrischen Bilder enthüllen ein raues Leben voller Mühsal. Aber ein friedvolles zugleich, selbst bestimmt und voller Würde noch im Alter. ?Ein Poem zwischen hoher Lyrik und warmherzigem Essay ist auch der Textbeitrag von Pierre Imhasly, der vor fünf Jahren mit seiner grossmächtigen "Rhone Saga" ins Scheinwerferlicht getreten ist. Mit Worten beschwört er, was in den Fotos leise anklingt: "An ihrem [Lenis] Berg gibt es nur Frauen. (Und Tiere auch.) / Wo Männer auftauchen, sind sie zum Helfen da; / ohne Unterschied." Imhasly lässt keinen Zweifel offen: Die Verantwortung für die Welt ruht auf den Schultern der Frauen. So ist das Buch mehr als ein einfühlsames Porträt - es ist eine Würdigung des Weiblichen als erzeugendem Prinzip schlechthin. Wenn Leni auf einem der Bilder duldsam einen Kiefernstamm zum Herdfeuer buckelt, unbeirrbar wie Jesus sein Kreuz, so scheint sie tatsächlich die Verantwortung für die ganze Welt auf ihren Schultern zu tragen.
Sascha Renner,Tages Anzeiger,3. Dezember 2001


B.MAGAZIN
Der Fotoband „Leni, Nomadin“ ist eine Hommage an die Walliser Wanderhirtin Leni, wohl die Letzte ihres Schlages. Der Fotograf Renato Jordan kennt die gelernte Hebamme seit seinen Kindertagen in der Simplon-Gegend. Mit seiner Kamera hat er Leni und ihre Tiere auf den Wanderungen über die Alpweiden bis an die italienische Grenze immer wieder begleitet. Dabei sind eindrückliche Schwarzweissaufnahmen entstanden, die zusammen mit den lyrischen Texten von Pierre Imhasly das Bild einer aussergewöhnlichen Frau und einer aussterbenden Lebensform vermitteln.